Vorwort

Als ich während des Pilgerweges ein Tagebuch zu führen begann, wusste ich noch nicht, dass ich Jahre später ein Buch darüber schreiben würde. Der ursprüngliche Grund war, mei­ne Gedanken und Erkenntnisse zu einem Abschluss zu bringen. Der Camino hat mich auch nach dem Erreichen von Santiago nicht losgelassen. Als ich den Pilgerweg unternommen habe, war ich mit meinen 21 Jahren sehr jung und absolut unvorbereitet. Ich wollte einen Schlussstrich darunter ziehen. Vier Jahre später begann ich mit der Arbeit an diesem Buch.
Ein berufsbegleitendes Studium unterbrach mich und da ich nicht wirklich überzeugt von meinem Werk war, liess ich es jahrelang unberührt liegen. Weitere neun Jahre vergingen und schliesslich fand ich wieder Zeit für die Weiterführung der Arbeit. Ich las meine erste Umsetzung nochmals genau durch und verglich sie mit meinen Notizen aus dem Tagebuch. Es war alles da: die Beschreib­ungen, die Leute, meine Gedanken. Nur etwas hatte ich voll­kommen weggelassen: meine Gefühle. Warum habe ich das Wichtigste verschwiegen? Nach kurzer Überlegung war es mir klar. Mit 25 war ich einfach zu jung, um mich vor anderen so zu entblössen. Ich konnte nicht zu meinen Gefühlen stehen. Vielleicht habe ich das schon während des ersten Entwurfes gespürt und deshalb mit dem Schreiben aufgehört.
In der Zwischenzeit hatte ich ein paar Bücher und Artikel über den Pilgerweg gelesen und die meisten empfand ich ent­weder als realitäts­fremd oder gar als falsch. Gespräche mit verschiedenen Personen, die auf dem Camino waren, bestätigten meine Ansicht. Ich schrieb also nicht mehr nur für mich selbst, sondern wollte weiter einen möglichst unverfälschten Blick auf den Pilgerweg

aufzeigen. Ausserdem wurden viele Fragen aufgeworfen, diese aber nicht beantwortet. Für mich als Leser war das unbefriedigend. Auch philosophische Gedanken fanden selten Platz und mussten Landschafts­beschreibungen weichen. Also nahm ich mir vor, ein spezielles Augenmerk auf diese Punkte zu richten. Ich begann mit der kompletten Überarbeitung. Ein paar Wochen später kam ich zu der Stelle, an der ich beim ersten Entwurf abgebrochen hatte. Ich nahm wieder mein Tagebuch zu Hilfe und war nicht schlecht überrascht, als ich Mühe hatte, mich an den Weg zwischen Burgos und León zu erinnern. Alles vorher und nachher war mir präsent, aber von diesem Abschnitt waren nur noch Fragmente übrig. Genau zu diesem Zeitpunkt ergab sich mir die Möglichkeit, eine berufliche Auszeit zu nehmen. Jetzt konnte ich den ganzen Tag an mei­nem Buch schreiben und nicht nur am Abend und an den Wochen­enden. Und irgendwie kam dann plötzlich der Gedanke, den Camino noch einmal zu gehen. Einen Monat später startete ich meinen zweiten Camino von León aus. Die erste Woche durch die Meseta alleine, die zwei darauf­fol­gen­den zusammen mit meiner langjährigen Verlobten Annika.
Ich hatte mir keine Vorstellungen über meinen zweiten Cami­no gemacht. Ich hatte einfach gehofft, dass das Wetter besser als beim letzten Mal sein würde. Ich war aber trotzdem ex­trem überrascht, wie sehr sich der Camino in den 13 Jahren verändert hat. Nicht nur die Infrastruktur, die Leute und deren Motivation haben sich gewandelt, ganze Streckenabschnitte wurden neu verlegt und verlassene Orte neu belebt. Mir wurde schnell klar, dass ich darüber berichten muss. Pilger und Bekannte zu Hause waren gleichermassen interessiert zu erfahren, was sich alles verändert hat.

Ich hatte schon zuvor begonnen, Kommentare zu mir oder Bemerkun­gen und Anregungen zu bestimmten Aspek­ten aus der heutigen Per­spektive einzufügen. Im zweiten Teil dieses Buches, ab León, habe ich diese weiter ausgebaut und gehe direkt auf die vielen offensichtlichen, aber auch weniger augen­scheinlichen Veränderungen ein. Um den Lesefluss nicht zu sehr zu stören, habe ich am Ende das Kapitel 13 Jahre später hinzugefügt, in dem ich nur über die Veränderun­gen schreibe.

 

Ich wünsche allen viel Spass beim Lesen.

 

Bruno Bieri, November 2011

Prolog     Le Puy-en-Velay    30.03.1998

Ich erwache früh an diesem Morgen. Endlich ist es soweit. Endlich. Es ist Montag, der 30. März 1998. Es ist der Tag, an dem ich das erste Mal längere Zeit auf Reisen gehe. Gut zwei Monate habe ich zur Verfügung, bis ich wieder zurück sein muss. Zwei Monate, die ganz alleine mir gehören. Motiviert packe ich alles, was ich für die Pilgerreise zu benötigen glaube, in meinen alten, grünen Rucksack. Das Hoch­heben des Rucksackes bestätigt mir, dass ich bereits viel Gewicht herumtragen muss. Was soll’s. Ich bin ja noch jung. Ein paar Kilo mehr oder weniger spielen keine Rolle. Meine schwere Winterjacke mit herausnehmbarer Innen­jacke befestige ich über dem Rucksack und den Militär­schlaf­sack mit wasserfester Schutzhülle unten mit den dafür vorgesehenen Schlaufen. Den Reiseführer Jakobsweg der Freude von Bert Teklenborg verstaue ich griffbereit. Geld, EC und Reisepass einstecken – und los geht es.

Meine Mutter fährt mich zum Bahnhof Muri, meine kleine bald sechs­jährige Schwester Selina begleitet uns. Ich kaufe mir ein Bahnbillet nach Le Puy-en-Velay und schon bald steige ich in den Zug. Ich erinnere mich an die Abschiedsküsse meiner Mutter und das unschuldige Gesicht meiner Schwester, die gar nicht richtig begriff, was hier vor sich ging.

 

Als ob ich selbst das damals begriffen hätte …
 
Als der Zug mit einem Ruck anfährt, überkommt mich ein Gefühl der Erleichterung, wie ich es noch selten erlebt habe. Ich bin unterwegs in eine ungewisse Zeit. Ich versuche mich zu erinnern, wann und wo ich das erste Mal vom Jakobsweg gehört habe.




Es muss etwa ein Jahr zuvor gewesen sein und ich plante ein Zwischenjahr nach der Matur einzulegen. Ein Sprach­aufenthalt war aus Kostengründen nicht möglich und selbst wenn, hätte ich keine Lust gehabt, schon wieder die Schulbank zu drücken. Eine Alternative musste her. An den Pilgerweg dachte ich eigentlich nicht oft, er war aber unterschwellig immer präsent. Nein, eigentlich wusste ich schon lange, dass ich gehen würde. Ich plante aber nichts und teilte meine Entschei­dung den anderen erst sehr kurzfristig mit. Den Reiseführer habe ich mir erst vor drei Tagen besorgt. Jetzt rolle ich gegen Westen, um durch halb Frankreich und Spanien zu pilgern. Irgendwie klingt das ein wenig verrückt. Was verspreche ich mir davon? Was erwarte ich? Ich schlage meinen Reiseführer auf und sehe mir meine ersten Etappen an. Ich messe ungefähr die verschiedenen Strecken ab und versuche mir vorzustellen, wie weit ich an ei­nem Tag kommen werde. Jakobsweg der Freude, wenn das nicht ein ver­heissungs­voller Titel ist? Nach dreieinhalb Stunden komme ich in Genf an und muss 40 Minuten bis zur Weiterfahrt warten. Das kommt mir sehr gelegen, Proviant für unterwegs habe ich nämlich keinen eingepackt. Also nutze ich die Zeit, um mir Brot, Hüttenkäse und Wasser zu besorgen. Mir fällt auf, dass alle französisch sprechen, und erst jetzt realisiere ich, dass auf dem Pilgerweg wohl niemand deutsch sprechen wird. Bruno, jetzt kannst du zeigen, was von den acht Jahren Französischunterricht wirklich hängengeblieben ist. Auf Anhieb will das aber nicht so recht gelingen. Zum Glück steht der Betrag in grossen Lettern auf der Kasse. Mündlich war noch nie meine Stärke. In Lyon muss ich umsteigen, um über St. Etienne nach Le Puy-en-Velay zu kommen. Leider weiss ich nicht, bei welcher Haltestelle ich den Zug wechseln muss.

Nach der dritten Lyon-Irgendetwas-Haltestelle werde ich nervös und steige aus. Eine Haltestelle zu früh. Mist. Zum Glück dauert es nur ein paar Minuten bis zum nächsten Zug, der mich zur richtigen Zwischenstation bringt. Also warte ich. Eine Bettlerin mit einem Kleinkind auf dem Arm streckt mir ihre Hand entgegen und murmelt irgendetwas. Ich verstehe kein Wort. War das jetzt Zufall oder Schicksal, dass ich hier zu früh ausgestiegen bin? Schnell entschlossen gebe ich ihr das restliche Brot und den Hütten­käse. Das Kind sieht aus, als ob es seit Jahren nichts mehr zu essen gekriegt hat, und als angehender Pilger hilft man einander, finde ich. Sie scheint nicht wirklich glücklich über meine Gaben zu sein, wahrschein­lich wollte sie nur Geld. Mit quietschenden Rädern fährt mein Zug ein. Eine Station weiter, umsteigen. Wenig später geht es weiter. Die Landschaft fliegt während der Reise an mir vorüber, nur die grossen Konturen kann ich wahrnehmen. Ich döse vor mich hin, dann betrachte ich wieder die Gegend. Der Frühling steht vor der Tür. Es ist sehr warm, ist die Jägerjacke die richtige Wahl? Habe ich alles eingepackt? Zwei Paar lange Hosen mit Seitentaschen und ein Paar Shorts, drei T-Shirts, zwei Pullover, drei Unterhosen, fünf Paar Socken, Regenhose und -jacke, schwarzer Filzhut, einen Trangia samt Brennsprit, Taschen­lampe, Fotoapparat, Zahnbürste und -paste, ein Stück Seife, Sandalen. Meine Klarinette habe ich in mein Badetuch eingewickelt, damit sie ein wenig geschützt ist. Was sonst noch? Zwei Bücher, drei Hefte, leeres Papier und Schreib­zeug waren ebenfalls noch schnell in den Rucksack gewandert. Ich denke, ich habe alles Wichtige dabei. Für mehr hätte es beim besten Willen auch keinen Platz mehr gehabt.

Dass ich unterwegs auch noch etwas hätte dazukaufen können, ist mir leider nicht in den Sinn gekommen. Meine schlecht durchdachten Vorbereitungen sollten sich schon bald rächen.


 

Ich freue mich auf das Wandern. Zwei Monate laufen. Zwei Monate nur für mich alleine. Langsam habe ich genug vom Zugfahren. Scheisse, wie weit ist es noch bis Le Puy-en-Velay? 20:04 Uhr. Endlich bin ich da. Es ist bereits dunkel und immer noch sehr warm. Meine gefütterte Jacke binde ich schnell wieder über den Rucksack und mache mich auf die Suche nach einer Unterkunft. Die Stadt liegt ruhig vor mir. Ich sehe ein Hotel, beachte es nicht weiter und suche nach einer Touristeninformation. Ich finde sie problemlos, aber natürlich ist sie schon längstens geschlossen. Wie bin ich nur auf die Idee gekommen, sie wäre noch offen? Ein Wegweiser für eine Pilgerunterkunft oder andere Pilger, die mir vielleicht hätten helfen können, sind nicht aufzufinden. Ich marschiere mal Richtung Zentrum. Wenig später begegne ich zwei jungen Französinnen. Ich spreche sie an in der Hoffnung, dass sie mir weiterhelfen können. Etwas unbeholfen konstruiere ich meine ersten richtigen Sätze auf Französisch. Das musst du noch üben. Und zwar schnell. Erst jetzt wird mir voll bewusst, dass ich den nächsten Monat auf französischem Boden verbringen werde. Ich habe nicht einmal daran gedacht, dass ich eine andere Sprache sprechen muss. Die zwei sind sehr hilfsbereit und erklären mir den Weg zur Jugendherberge. Ich muss wohl ein bisschen hilflos ausgesehen haben, denn sie erklären kurzerhand, dass sie mich begleiten. Nett. Sie nehmen mich in ihre Mitte und ich erzähle ihnen von meiner Absicht, den Pilgerweg zu beschreiten.



Es geht ziemlich weit hinauf und ich gerate bereits ein wenig ausser Puste. Mein Ungetüm auf meinem Rücken scheint nicht in dieselbe Richtung wie ich gehen zu wollen. Endlich oben angekommen ver­abschieden sie sich lachend von mir. Ich lache ebenfalls, bin mir aber nicht sicher, ob wir aus demselben Grund so fröhlich sind. Ich suche den Eingang des grossen Gebäudes. Alles ist still. Eine Tür steht einen Spalt weit offen, ein älterer Mann sitzt hinter einem Tisch. Er winkt mich herein und erzählt munter drauflos. Ich verstehe nur Bahnhof. Ich lächle und er reicht mir ein Blatt Papier und einen Stift. Ich schreibe meine Personalien auf und schon bald bin ich stolzer Besitzer eines Jugi-Ausweises. Ich bezahle mit Francs, die ich einer Ein­gebung folgend zuvor einem Bankomat entwendet habe. Er führt mich auf mein Zimmer. Besser gesagt in ein Loch. Winzig ist nur der Vorname, es hat gerade Platz für zwei Kajütenbetten. Selbst für ein Fenster scheint es keinen Platz zu haben. Das ist richtig ungemütlich hier. Ich bin alleine, mein Magen knurrt. Ich überlege mir in ein Restaurant zu gehen, aber der Weg in die Stadt hinab ist mir zu anstrengend. Ich bin von dem kurzen Aufstieg immer noch ziemlich erschöpft. An den gewichtigen Rucksack muss ich mich erst noch gewöhnen. Fast komme ich in Versuchung zu bereuen, dass ich der bettelnden Frau mit ihrem dem Hungertod nahen Kleinkind mein Nachtessen vermacht habe. Fast. Es war für einen guten Zweck, sage ich mir. Ertrage das Hungergefühl wie ein Mann, es gibt Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen, die dieses Gefühl täglich haben. Kaum recht aus der Schweiz heraus, ein paar Meter zu einer Unterkunft gewandert und mir kommen bereits die ersten Zweifel. Werde ich das durchstehen? Bis zum Ende? Werde ich so weit gehen können – wollen? Ich bin verunsichert.

Das ist dein gutes Recht, sage ich mir. Du bist das erste Mal alleine von zu Hause weg. Alles ist neu für dich. Das darf dich verunsichern. Ich lasse mich auf ein Abenteuer ein, von dem ich nicht weiss, was mich erwartet. Ich kenne nicht das Was, sondern nur das Wo: das Ziel, Santiago de Compostela. Komme ich überhaupt zum Klarinettespielen? In einer Absteige wie dieser hier ist das undenkbar. Ich blättere also in meinem Reiseführer und betrachte mei­ne morgige erste Etappe zum wiederholten Mal. Ich nehme mir nicht viel vor, laut Plan etwa 15 km. Das schaffst du, 15 km sind machbar. Irgendwie bin ich müde vom Nichtstun. Das Reisen ist an­strengend. Habe ich schon erwähnt, wie schwer mein Rucksack ist?

Zum Lesen habe ich keine Lust.

Ich lege mich schlafen.